BRIEFE AUS BEESKOW


Foto: Jörn Tornow, MOZ

Foto: Jörn Tornow, MOZ


6. Oktober 2019
Tag 1 in Beeskow

Lieber A., 
obwohl ich Dich eigentlich E. nennen würde, wie früher. Oder T., aber Du hast entschieden, dass Du A. heißen sollst und das habe ich zu respektieren. Ich schreibe Dir aus B., also Beeskow, wo Du einen Großteil Deines Lebens verbracht hast. Damals in M. hast Du mir von Beeskow erzählt und ich Dir aus meiner Jugend, die ich an einem ebenso überschaubaren Ort verlebte. Das alles habe ich auch in meine Bewerbung geschrieben, und siehe da, schon bin ich Burgschreiber. Zu Beeskow. Und Du sitzt in H. und ahnst nichts davon. Wovon? Ich habe Dich benutzt. Ich fühle mich deswegen nicht schlecht, bin mir aber durchaus darüber bewusst, dass ich auch hier sitze, weil ich Dich damals getroffen habe. Nun gibt man mir ein Zimmer für mich allein, so wie es Virginia Woolf vor fast hundert Jahren forderte, und es ist groß und schön und in diesem Augenblick wirft die Sonne ihr Licht auf meine schreibende Hand. Fünf Monate darf ich hier sitzen und schreiben und Kaffee trinken und herumgehen. 
Und bekomme auch noch Geld dafür. Ich kann Dir nichts davon abgeben. Das hättest Du bestimmt auch nicht verlangt. Ich kann Dir einen Tee kochen, wenn Du mich besuchen kommst und Du zeigst mir, wo genau Du aufgewachsen bist. Kommst Du mich besuchen? 
Auch denen, die sich außer mir beworben haben, kann ich nichts abgeben. Virginia Woolf, selbst durch das Privileg einer Erbschaft vor literaturferner Lohnarbeit geschützt, forderte dieses Zimmer für sich allein für Frauen, denen es jahrhundertelang kaum möglich war, eigene Gedanken schreibend zum Ausdruck zu bringen. Nach allem was man mir sagt, bin ich keine Frau. Ich bin mir allerdings auch nicht sicher, ob ich ein Mann sein will. Woolf schreibt in besagtem Essay: »Es ist anstrengend, die Geschlechter als getrennt voneinander zu denken. […] Es stört die Einheit des Geistes.« Sie schreibt sogar: »Es ist tödlich, einfach und durch und durch Mann oder Frau zu sein; man muss weiblich-männlich oder männlich-weiblich sein.« Aber davon wollte ich Dir heute gar nicht schreiben. Ich wollte mich bei Dir bedanken, für dieses Zimmer hier, für mich allein, das ich gerne einmal mit Dir teilen würde. Vor meinem Fenster spazieren Menschen in bunten Jacken – ich will gleich rausgehen, in die Sonne, und diesen für mich neuen Ort erkunden. Hast du Tipps? 
Ich denke an Dich, bis bald! 
Dein alter Freund S.

Kolumne in der Märkischen Oderzeitung
im Rahmen des Burgschreiber-Stipendiums der
Burg Beeskow


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